Das Carepaket

Kurzgeschichte von Dirk Hagen

 

Dirk wurde in einer Zeit geboren, als die Welt noch schwarz-weiß und grau war. Der schreckliche Krieg war gerade ein paar Jahre vorbei. In  Strohausen am Deich standen noch die grünen Baracken vom Reichsarbeitsdienst in denen heute Flüchtlinge aus den besetzten Ostgebieten wohnten. Ostpreußen, Schlesier und sonstige Pollacken, so redete man hinterm Rücken dieser geplagten Menschen. Dirk durfte nicht mit den Kindern spielen, die dort wohnten. Oma sagte, das „Die“ alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist, Flöhe haben, lügen und uns die Arbeit wegnehmen und auch sonst ganz schlechte Menschen sein müssen. Zigeuner sollen auch dabei sein, das sind die Schlimmsten, hat Oma gesagt. „Aber meine Mutter kommt doch auch aus dem Osten?!“ wendete Dirk ein. „Ja, aber das ist was anderes, die wohnt ja auch nicht in einer Baracke, und außerdem ist sie eine geborene Holzmann und das ist ein deutscher Name und nicht Kowalski, Schablonski und Schibilski oder so.“ Dirk hat das alles so richtig nicht verstanden. Erst viele Jahre später, versuchte Dirk zu verstehen. Aber Verständnis für dieses inhumane und intolerante Verhalten bekam er nie.


Dirk bekam zu seinem sechsten Geburtstag ein richtiges Bett. Er hatte bis dahin in einem Alkoven geschlafen. Wenn er nachts hineingepinkelt hatte, wurde morgens mit der Mistforke das Stroh ausgetauscht. Das neue Bett war ein richtiges Eisengestell mit einer harten Seegrasmatratze. Dirk musste sich etwas umgewöhnen, das Stroh war eigentlich viel angenehmer, vor allem roch es immer so schön, wenn er abends ins Bett musste.


Im Frühjahr 1957 kam Dirk in die Schule. Vier Kilometer musste er durchs Dorf gehen. Er kam immer an der alten, stillgelegten Ziegelei vorbei. Dort traf er sich mit den Mitschülern, die auch die Schule schwänzten. Es gab so herrliche Verstecke dort und niemand kam auf die Idee, die Kinder dort zu suchen.


Es kam jedoch meistens so, wie es kommen musste. Die Sache platzte. Die Lehrer ließen sich von Dirks gut überlegten Ausreden nicht überzeugen und meldeten die Fehlzeiten an die Eltern weiter. Manchmal kamen die Sanktionen von der Schule, manchmal auch aus dem Elternhaus. In der Schule gab es ein paar Hiebe mit dem Rohrstock auf den Hintern. Das war aber nicht so schlimm. Dirk hatte vorher genug Zeit, sich das Hinterteil so zu präparieren, das die Schläge nur auf ein gutes Polster aus alten Zeitungen landeten. Und außerdem hatten Schüler den Rohrstock mit der Laubsäge angesägt, so dass er in tausend Stücke zerbrach, wenn der Lehrer so richtig ausholte und draufschlug. Zuhause war die Bestrafung schon etwas schlimmer. Es ging meist ohne Essen ins Bett. Für jemanden, der immer einen guten Appetit hatte, war es also die Höchststrafe. So auch für Dirk. Er war ein guter Esser. Und Opa brachte immer etwas Rauchfisch auf den Tisch und den mochte Dirk besonders gern.


Heute war mal wieder so ein schrecklicher Tag. Dirk wurde wieder mal erwischt. Er hatte dem Lehrer ein Zehn-Meter-Seil ans Fahrrad geknüpft und das andere Ende an einen Pfeiler. Eine Vergeltungsaktion wegen den Rohrstockhieben am Vortag. Es funktionierte hervorragend. Der Lehrer flog mindestens drei Meter weit über den Lenker des Fahrrads und landete nach einem kunstvollen Salto direkt auf das knöcherne Steißbein. Ja, das sind Schmerzen, dachte Dirk noch mit Genugtuung, als ihn ein anderer Lehrer, der nach Knoblauch roch und die Aktion beobachtet hatte, ihn am Kragen packte und ins Lehrerzimmer zerrte. Es waren eben Lehrer der alten Schule, wie es so verharmlosend heißt. Lehrer in der Nachkriegszeit aus der Vorkriegszeit.


Die Sanktion zu Hause war wieder mal die Übliche: Ohne Essen in Bett. Dirk hatte Hunger. Jetzt, wo er wusste, das er heute nichts bekam, hatte er erst recht Hunger. Im ganzen Haus roch es nach frischgebackenem Brot. Oma hatte gebacken und alle freuten sich auf das Abendbrot.


Das gutriechende Brot hatten sie Onkel Heinrich und Tante Elfriede zu verdanken. Onkel Heinrich war Bäcker und ist mit seiner Elfriede schon während der Inflationszeit nach Amerika ausgewandert. In Deutschland war seine Existenz bedroht. Die Weimarer Republik hatte ihn Pleite gemacht. Also, was blieb ihm übrig. Er musste den Sprung über den großen Teich machen, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Dann kam der zweite Weltkrieg und alle Kontakte brachen ab. Man konnte doch nicht mit dem Feind kommunizieren und verboten war es außerdem. Jahrelang hat die Familie also nichts mehr von Onkel Heinrich und Tante Elfriede gehört.


Im Mai 1945 war nach dem Endsieg das tausendjährige Reich zu Ende. Oma betrauerte vier Söhne, die für den Führer den Heldentod an der Front starben. Dafür konnte sie sich auf den großen Orden freuen, den sie vom Führer für ihre sechs Söhne bekommen hatte und den sie Dirk später immer wieder voller Stolz zeigte. Die amerikanischen Soldaten kamen ins Dorf. Opa hatte vom Fischkutter den Mast abgesägt. Den Kutter fuhr er ins hohe Schilf der Strohauser Plate, um sich vor dem herannahenden Feind zu verstecken. Ohne Mast konnte niemand den Kutter sehen. Vierzehn Tage nach Kriegsende überflog ein amerikanisches Flugzeug das Versteck. Der Pilot winkte freundlich herunter. Oma und Opa gaben frustriert auf. Sie fuhren in den Strohauser Hafen zurück mit dem Vorsatz, sich dem Feind zu ergeben. Die bewaffneten Amerikaner standen am Liegeplatz. Sie waren zu den Beiden sehr freundlich und schickten sie einfach nach Hause.


Einige Wochen später bekam die Familie plötzlich ein Paket aus Amerika. Es war von Onkel Heinrich und Tante Elfriede. In Deutschland herrschte immer noch Hunger. Die Besatzer verteilten Nahrungsmittel an die Bevölkerung. In großen Mengen wurde Maismehl ausgegeben. Anfangs war es ja auch schön und gut. Es wurde daraus Brot gebacken, etwas kam in die Suppe oder in die Soße und Sonntags gab es Kuchen mit Maismehl. Umso erfreuter waren alle, wenn aus Amerika das Carepaket mit richtigem Weizen- oder Roggenmehl kam. Das war immer ein Freudenfest, wenn das Mehlpaket geschickt wurde. Gut, das Onkel Heinrich eine eigene Bäckerei in Amerika hatte. Jahrelang kam also in regelmäßigen Abständen das Carepaket. Onkel Heinrich sei Dank.


Zurück zu Dirk. Er saß in seiner Kammer und ärgerte sich über alles. Heute lief aber auch alles schief. Sein Magen knurrte wie ein wütender Schäferhund. Oma hatte aus dem Mehl aus Amerika, das immer noch in aller Regelmäßigkeit mit der Post kam, ein schönes knuspriges Brot gebacken. Die Familie saß beim Abendbrot und verspeiste das frisch gebackene Roggenbrot und er hatte wieder mal die Höchststrafe. Ohne Essen ins Bett. Er wusste genau, es blieb nie etwas von dem guten Brot übrig. Mehr wie zwei Pfund Weizenmehl und ein Pfund Roggenmehl war nie in Onkel Heinrichs Carepaket. Diesmal war es wohl noch weniger. Im Paket waren nur zwei Pfund graues Roggenmehl. Ein Pfund in einer weißen Tüte und ein Pfund in einer braunen Tüte.


Eine Woche später kam der Postbote mit dem Fahrrad. Er schwenkte freudig einen Brief in der Hand. „Ihr habt Post aus Amerika bekommen!“ rief er und gab Oma den Brief. Auf dem Absender stand Elfriedes Name. In dieser Zeit war es ein Ereignis, wenn jemand ein Brief bekam. Und dazu noch aus dem Ausland. Die ganze Familie kam zusammen. Alle wollten wissen, was in dem Brief stand. Oma setzte ihre Brille auf und las allen laut vor:


Liebe Familie,
 
ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Euch. Unser lieber Heinrich ist gestorben. Bevor er einschlief, musste ich ihm  versprechen, dass  er, wenn er tot ist, verbrannt wird. Seine Asche soll dann in heimatlicher Erde begraben werden. So haben wir es dann auch gemacht. Ich habe das Paket mit seiner Asche auch schon abgeschickt. In der weißen Tüte ist ein Pfund Roggenmehl und in der braunen Tüte ist Euer Onkel Heinrich. Bitte bringt diese Tüte zum Pastor, damit Heinrich auf dem Friedhof ein würdiges Begräbnis bekommt. Vielen Dank – Eure Tante Elfriede Tante Elfriede soll nie erfahren, das auf dem Friedhof ein Pfund Maismehl begraben wurde. Onkel Heinrich soll in Frieden ruhen, hat der Pastor gesagt.

 


© Dirk Hagen